Fast drei Monate musste der BKU seine für 2020 in der Berliner Diözesangruppe geplanten Veranstaltungen wegen Corona nach dem allgemeinem Lockdown aussetzen. Mit einer Hl. Messe wurde dann am 22. Mai die allmählich Aufhebung der Corona-Maßnahmen auch spirituell gefeiert. Am 22. Juni hat die Diözesangruppe dann ihr Veranstaltungs-Programm mit einem Vortrag von Matthias Schäfer, dem Leiter des Shanghai-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), wieder aufgenommen. Schäfer vermittelte zu dem Thema: „China - Weltmacht oder Corona-Opfer?“ einen umfassenden und profunden Eindruck und analysierte als Zeitzeuge anschaulich und mit prägnanten Beispielen die Situation in China.
Wegen der Corona-Hygiene-Regeln konnten leider nur ca. 35 interessierte Mitglieder und Gäste des BKU an der alle Informationsbedürfnisse befriedigenden Veranstaltung teilnehmen; im Pfarrsaal von St. Matthias in Schöneberg erlebten sie einen sachkundigen und engagierten Referenten, dem das Reich der Mitte nicht erst seit seiner Etablierung in Shanghai als offizieller Vertreter der KAS Mitte 2019 am Herzen liegt.
Eindrucksvoll schilderte Schäfer auf die Fragen der Moderatoren Richard Schütze und Jan-Philipp Görtz und die Wortmeldungen aus dem Publikum die atemberaubenden politischen und technologischen Veränderungen in der chinesischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft insbesondere in den letzten Jahren. Von einer „kommunistischen Gesellschaft“ im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie könne kaum mehr gesprochen werden. Stattdessen sei zur Entwicklung von Chinas Vormachtstellung und der „Kommunistischen Partei“ als totalitär-diktatorischem Machtapparat zielgerichtet ein darwinistischer "Turbo-Wettbewerb" unter den Chinesen ausgelöst worden, der zwar immer wieder Sprünge in der Entwicklung ermögliche, aber bei diesen Sprüngen längst nicht mehr alle Bürger mitnehme. Dem Dogma einer bedingungslosen Entwicklung werde alles untergeordnet: Wirtschaft, Gesellschaft, das Rechtssystem mit der Ausblendung und Unterdrückung individueller Rechte, die politisierte Geschichtsschreibung mit ihrer Verfälschung historischer und politischer Fakten, wie die Welt dies bei dem Kreieren des Corona-Narrativs erlebt habe. Niederlagen und innere Widersprüche wie die Niederschlagung der Freiheitsrevolution auf dem Pekinger Tiananmen-Platz 1989 werden systematisch ausgeblendet. Aktuell scheint diese „gesäuberte Selbstwahrnehmung" noch als self-fulfilling prophecy Erfolge zu zeigen, da Chinas Einfluss und mithin sein Selbstbewusstsein steigen - Corona hin oder her. Die Chinesen sollen ihr Land und System für vorbildlich für die ganze Welt erachten. Nicht nur durch die Bevölkerungszahl von inzwischen 1,4 Milliarden Menschen findet schließlich nunmehr fast 2/3 des globalen Wachstums im Reich der Mitte statt. Die Früchte dieses Wachstums aber sind sehr unterschiedlich verteilt. So werde, diagnostizierte Schäfer, die Polarisierung innerhalb der Bevölkerung und auch der Regionen Chinas weiter fortschreiten. Ebenso gebe die demographische Entwicklung und die extrem starke Kontrolle des Einzelnen - sowohl durch Parteifunktionäre als auch mittels digitaler Technologien - Grund, sich nicht nur von dem chinesischen Wirtschaftswunder und der Propaganda beeindrucken zu lassen, sondern auch die teilweise tönernen Füße in den Blick zu nehmen, auf denen der Koloss China stehe. Neben der sozialen Ungleichheit und der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft zähle auch die enorme Verschuldung Chinas zu den Risikofaktoren für eine nachhaltige Entwicklung. "Während Europa reich geworden ist, bevor es alterte, altert China, bevor es reich wird“, analysierte Schäfer.
Der enorme politische Wille, der China bis 2049 - dem hundertsten Jahrestag der Gründung des roten Nationalchina - zur weltweiten Führungsmacht in allen Bereichen, vom Militär, über die Wirtschaft bis hin zu Wissenschaft, Sport und Kultur machen wolle, bediene sich der großen Disziplin und den ausgeprägten Arbeitstugenden der Chinesen gepaart mit Sparsamkeit, Fleiß und einem großen Bildungsdrang. China trete i allen wesentlichen Bereichen als äußerst ernstzunehmender Konkurrent und neokolonialistisch gesinnter Hegemon auf. Die deutsche Wirtschaft - und Bevölkerung - könne sich an der Ethik und auch den Früchten der Anstrengung der Chinesen in puncto Sicherheit und Sauberkeit in manchen Bereichen ein Vorbild nehmen.
So beeindruckt die Zuhörer nach spannenden 90 Minuten von den aufgezählten Erfolgen Chinas auch waren: Keinen der Anwesenden reizte es, möglichst bald nach China auszuwandern. Zu bedrückend waren die Schilderungen der „freundlichen" Überprüfungen der Stiftungsarbeit durch die politische Polizei und des Anpassungsdrucks, der auf Chinesen wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch lastet. Die eindrucksvollen Bilder von pulsierenden chinesischen Metropolen und technischen Innovationen konnten das beklemmende Gefühl einer nahezu absoluten Sozialkontrolle mit einer massiven Einschränkung der Meinungs- und auch der Kunstfreiheit nicht kompensieren.
Politischer Druck und digitale Totalüberwachung bewirken aber zugleich, dass in China immer wieder auch alternative Stimmen vernehmbar werden. „Unter der Oberfläche gärt es.“, sagte Schäfer. Diese Stimmen würden zunächst unterdrückt, letztendlich jedoch sei man bestrebt, sie irgendwie zu integrieren oder zu assimilieren. Das gelte sowohl für einen Dissens in säkularen Fragen als auch für die Christen, speziell die Katholische Kirche, für die die führenden Repräsentanten des Chinas Systems wegen ihres weltweiten moralischen Einflusses sogar eine gewisse Bewunderung hegten. Gleiches gelte im übrigen auch für Deutschland, das in China überwiegend positiv und als in gewisser Weise artverwandt (friedliebend, handel-treibend, technologisch versiert) angesehen sei. Diese Sympathien und positiven Einstellungen bedeuteten einen Brückenpfeiler, zu dessen Nutzung Schäfer aufrief. In einem internationalen Diskurs müssten Christen und Europäer die eigenen Stärken selbstbewusster ausspielen. Vertrauen, Menschlichkeit und Bildung seien Elemente, die Europa einsetzen könne, insbesondere auch, weil die USA bewusst auf eine Entkupplung setzten. Für Deutschland sei dies aber keine einfache Gradwanderung, doch lohne sich ein Versuch. Für Schäfer stand als Fazit außer Zweifel, dass für Deutschland eine feste Verankerung im Westen und ein selbstbewusstes, konstruktives Zugehen auf China die richtige Strategie seien. „Gib mir einen festen Standpunkt, und ich verändere die Welt.“ Dieser Satz von Archimedes gelte auch im Verhältnis des Westens zu China.
Bericht: Jan-Philipp Görtz | Foto: Norman Gebauer